Protestaufruf gegen Pläne von Jens Spahn
Berlin (kobinet) Die Pläne des Bundesgesundheitsministers für eine Reform bei der Versorgung beatmeter Menschen, wonach die Intensivpflege mit Beatmung in den eigenen vier Wänden bald nur noch die absolute Ausnahme sein soll, hat bei vielen Betroffenen einen Aufschrei ausgelöst. Der Minister gebe vor, Missbrauch zu bekämpfen – attackiere aber damit die Lebensqualität vieler Menschen mit Behinderung, kritisiert beispielsweise AbilityWatch. Daher ruft das Bündnis zu Protesten am kommenden Sonntag beim Tag der offenen Tür der Bundesregierung im Bundesgesundheitsministeriums ab 10.30 in der Friedrichstraße 108 in Berlin auf.
“Der Bundesgesundheitsminister will eine Reform bei der Versorgung beatmeter Menschen. Er gibt vor Missbrauch zu bekämpfen – attackiert aber damit die Lebensqualität vieler Menschen mit Behinderung”, heißt es im Aufruf zum Protest gegen das “Reha- und Intensivpflege-Schwächungsgesetz (RISG)”, wie es von den Betroffenenen mittlerweile bezeichnet wird. Auf dem provokanten Plakat werden Jens Spahn mit einer Sprechblase die Worte: “Behinderte mit Beatmung gehören in Spezialeinrichtungen” zugeschrieben und mit dem Liedtitel “Atemlos, ab ins Heim” untermauert. “Jens Spahn ist ein aktiver Mann und wirbelt als Bundesgesundheitsminister durch sein Ressort. Doch sein aktuellstes Vorhaben ist wahrhaft bedrohlich. Statt Probleme zu lösen, will er sie verlagern – sprichwörtlich”, heißt es in einer Presseinformation von AbilityWatch.
Worum es geht, erläutert die Initiative wie folgt: “Spahn plant ein Gesetz zur Reform der Pflege bei Patienten mit Beatmung, denn da sieht er Einsparpotenzial, mangelnde Qualität und Missbrauchsmöglichkeiten. Die mediale Berichterstattung blickt derweil nur auf Zahlen: ‘Muss ein Patient zu Hause beatmet werden, bekommen Pflegedienste etwa 20.000 Euro im Monat’, schreibt Spiegel-Online. Holla, denkt der Leser, ist das viel. Weiter heißt es im Text: ‘Das lukrative Geschäft mit Beatmungspatienten könnte Missbrauch fördern, warnt Spahn.’ Fakt ist, dass die Zahl der Beatmungen, die ambulant vorgenommen werden, gestiegen ist. Dies ist insbesondere auf verbesserte technische Möglichkeiten zurückzuführen. Und darauf, dass es mittlerweile glücklicherweise auch für schwerstbehinderte Menschen, die Beatmung benötigen, möglich ist, ein Leben mitten in der Gesellschaft zu führen. Spahn hat durchaus Recht, wenn er anmahnt, dass die ambulante Versorgung vor Problemen steht. Viele Betroffene finden kaum mehr qualifizierte Pflegedienste oder Assistenten – erst recht nicht zu den Budgets, die die Kostenträger ihnen gewähren. Was aber plant nun Spahn konkret? Er möchte die Versorgung außerhalb von Kliniken und in Spezialeinrichtungen quasi unmöglich machen. Sein Gesetzentwurf sieht vor, dass die Intensivpflege mit Beatmung in den eigenen vier Wänden nur noch dann möglich sein soll, wenn keine klinische Versorgung möglich oder zumutbar ist. Diese Formulierung ist bereits bekannt durch andere Gesetze und liefert die Menschen an jene Sachbearbeiter aus, welche die Zumutbarkeit zu prüfen haben; in der Vergangenheit gab es eindrückliche Beispiele dafür, dass die Zumutbarkeitsregelung zum Nachteil behinderter Menschen ausgelegt und in der Praxis gelebt wird. Der Begriff öffnet einer gewissen Willkür die Tür.”
Beatmung wird nach Ansicht von AbilityWacht dargestellt als ein oft überflüssiges Instrument, welches sogar schlecht für den Menschen sei, da es ihm ein Stück seiner Unabhängigkeit raubt. Es sei richtig, dass eine Entwöhnung von der Beatmung nach Eingriffen in Krankenhäusern oft nicht konsequent probiert und zu schnell abgebrochen wird. Viele Menschen mit Behinderungen seien hingegen schlicht dauerhaft auf Beatmung angewiesen. Bei degenerativen Erkrankungen sei eine Entwöhnung beispielsweise nicht möglich. Dank des heutigen Anspruchs auf häusliche Behandlungspflege sei diesen Menschen ein selbstbestimmtes Leben, gesellschaftliche Teilhabe und Arbeit möglich, heißt es in der Presseinformation von AbilityWatch.
“Spahn und sein Ministerium möchten aber genau diesen Anspruch durch ein grundsätzliches Verlegen in Spezialeinrichtungen ersetzen. Für jene Menschen heißt es nun: für immer in vollstationäre Einrichtungen. Der 40-jährige Kampf behinderter Menschen für ein Leben daheim wäre verloren. Zudem steht zu befürchten, dass viele Betroffene zukünftig so lange wie möglich eine Beatmung hinausschieben aus Angst, ihr ambulantes, selbstständiges Leben aufgeben zu müssen. Für einige Krankheitsbilder kann dies verheerend sein”, warnt das Bündnis. “Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Skandal. Er missachtet die Würde von Menschen, dringt in ihren Alltag ein und diskriminiert sie.”
Vordergründig würde das Gesetz die Qualität der Versorgung verbessern wollen. In Wirklichkeit gehe es aber um Kostensenkungen, wie die Gesetzesbegründung selbst sagt: “Durch Verbesserungen der Qualität […] verbunden mit einer regelhaften qualitätsgesicherten Leistungserbringung in vollstationären Pflegeeinrichtungen, […] oder in speziellen Intensivpflege-Wohneinheiten können im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung bei voller Jahreswirkung erhebliche Minderausgaben in einem mittleren dreistelligen Millionenbetrag entstehen.” (S. 18) Auch an anderer Stelle entlarve sich der Gesetzentwurf selbst. Auf Seite 21 heißt es: “Für diese Versicherten und ihre Angehörigen würde eine abrupte Verlegung in ein neues Umfeld eine besondere Härte darstellen.“ Abgesehen davon, dass ein erzwungenes Wechseln von einer häuslichen Pflegesituation in ein stationäres Setting wohl kaum als Verlegung bezeichnet werden könne, sehe der Entwurf vor, dass trotz der festgestellten Härte spätestens 36 Monate nach Inkrafttreten sämtliche Versicherten mit dieser Situation in stationäre Einrichtungen untergebracht sein müssten, kritisiert AbilityWatch.
Der Entwurf erinnere damit an die schlimmsten Zeiten der deutschen Geschichte. Unter dem Vorwand, Gutes zu tun, würden Menschen mit Behinderung zuhause abgeholt und in Spezialeinrichtungen gesteckt – es sei ja nur in ihrem Interesse. In Wirklichkeit sollten dadurch aber über 100 Millionen Euro jährlich eingespart werden. “Menschen mit Behinderungen sollen nun den Preis für eine verschleppte Qualitäts- und Ausbildungsoffensive zahlen. Die Erkenntnis, dass es Engpässe bei der Versorgung und einen Mangel an Qualität bei der Intensivpflege gibt, ist richtig. Statt aber diese Probleme anzugehen und Menschen mit Behinderungen eine Wahlalternative zur ambulanten häuslichen Krankenpflege zu bieten, lagert Herr Spahn behinderte Menschen einfach aus – in Spezialeinrichtungen, in denen weniger Personal pro Betroffenen zur Verfügung steht und ein gesellschaftliches Leben nicht mehr möglich ist”, bringt es AbilityWatch auf den Punkt.
Den Tag der offenen Tür der Bundesregierung am kommenden Wochenende wollen daher Betroffene nutzen, um im Bundesministerium für Gesundheit in der Friedrichstraße 108 in Berlin ab 10.30 Uhr gegen diese Pläne zu protestieren und mit Jens Spahn ins Gespräch zu kommen. Da die Anhörung des Referentenentwurfs für die geplante Gesetzesreform schon am 11. September stattfinde, gelte es nun, den Protest der Betroffenen schnell und effektiv deutlich zu machen.
Link zum Aufruf für die Protestaktion und zur Presseinformation von AbilityWatch